Ueber
Lazarette und Baracken.
Vortrag,
Gehalten
vor der Berliner medicinischen Gesellschaft
am 8. Februar 1871
von
Rudolf VIrchow,
Votsittendem der Lazarett- Commission des Berliner Hulfs - Vereins fur die deutschen
Armeen im Felde.
Berlin, 1871.
Verlag von Angnst Hirschwald.
Die Noth des gegenwartigtn Krieges hat viele von uns in längere und nähere Beziehungen zu
den Militar-Lazaretten gebracht, und es
ist jetzt wohl an der Zeit, die Beantwortung der
mannichfachen Fragen zu beginnen, welche dadurch angeregt sind. Eine der wichtigsten unter
diesen Fragen ist die, welche uns nicht bloss in militärischer Hinsicht interessirt, in welcher Weise
sind Spitäler am zweckmässigsten einzurichten?
Gerade wir haben ein doppeltes Interesse an dieser Frage: einerseits ein retrospectives, zu
prüfen, in wie weit das, was wir gemacht haben, den Ansprüchen, welche daran gestellt werden
müssen, genügt hat, andererseits in Beziehung auf die Zukunft, weil wir beschäftigt sind, eine
grössere Krankenanstalt für die Stadt zu errichten, und weil aller Wahrscheinlichkeit nach während
des nächsten Decenniums in unserer Stadt noch mehrere Krankenhäuser werden in Angriff
genommen werden müssen. Denn der schnelle Anwachs der Stadt lässt voraussehen, dass bald
genug ein ungleich grösseres Bedürfniss an Krankenräumen hervortreten wird, als gegenwärtig zu
befriedigen in Aussicht genommen ist.
Die Frage, ob sich eine Krankenhaus-Einrichtung bewährt hat, bestimmt zu beantworten, ist
allerdings, wie ich meine, eine schwierigere Aufgabe, als sich viele Leute vorstellen. Es giebt, wie
mir scheint, nicht wenige, welche glauben, es genüge einfach, ein Rechenexempel zu machen, um
nach dem zahlenmäs sigen Facit beurtheilen zu können, ob die Einrichtung gut gewesen ist oder
nicht. Man fragt: sind viele Todesfälle vorgekommen oder nicht? Wenn Jemand sagt: in meinem
Lazarett
ist kein Todesfall vorgekommen, so prätendirt er damit, dass sein Lazarett als ein
ausgezeichnetes anerkannt werde, wenn umgekehrt gesagt wird, in jenem Lazarett sind dreihundert
gestorben, so schlägt mancher die Hände über den Kopf zusammen, als wenn dies bewiese, dass
das Lazarett ein schlechtes gewesen sei. Ich habe immer grosse Hochachtung vor der Statistik
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gehabt, ich habe aber nie anerkannt, dass die rohe Statistik, brauchbare Resultate gebe, und am
wenigsten vermag ich zuzugestehen, dass blosse Mortalitätsziffern ohne Rücksicht auf die Qualität
der behandelten Fälle eine sichere Unterlage für die Beantwortung der Frage abgeben, ob ein
Lazarett ein gutes oder schlechtes gewesen sei. Die Statistik ist ja keine Wissenschaft, sondern nur
eine Methode, und wie bei jeder Methode, so handelt es sich auch hier darum, ob sie zweckmässig
gehandhabt wird.
Anders liegt die Frage, wenn man die Qualität der Todesfälle analysirt und auf die Ursachen
zurückgeht, durch welche sie bedingt sind. Allein hier stossen wir alsbald auf eine andere
Schwierigkeit, nämlich auf die wissenschaftliche Differenz in Beziehung auf die Auffassung
gewisser Krankheitsprozesse, die gerade in der neueren Zeit in so heftiger Weise aufgetreten ist,
wie selten vorher. Ich will in dieser Beziehung nur an eine wissenschaftliche Frage erinnern, die ja
wahrscheinlich die meisten von Ihnen schon beschäftigt hat, nämlich die Frage, in welcher Weise
ein Erysipel entstehe. Es giebt
sehr hervorragende Gelehrte, welche sich entschieden der
Auffassung zuneigen, es sei jedes Erysipel von vorn herein durch eine Infection, womöglich durch
eine Contagion bedingt. Meiner Meinung nach wäre es für die Erörterung dieser Fragen
zweckmässig, Infection und Contagion nicht einfach zu identificiren. Wird nachgewiesen, dass das
Erysipel contagiös ist, so folgt daraus noch keineswegs, dass es jedesmal aus einer Infection
hervorgeht. Selbst wenn man findet, dass jedes Erysipel infectiös ist, so hat man noch nicht
dargethan, dass es ursprünglich durch Infection hervorgebracht ist, insofern auch ein ursprünglich
einfacher und lokaler Prozess die Fähigkeit haben kann, im Körper allerlei Verunreinigungen
hervorzubringen und auf diese Weise infectiös zu werden. Wie mit dem Erysipel, so verhält es
sich mit manchen anderen Prozessen, und ich möchte daher ganz besonders davor warnen, dass
man sich den Begriff der infectiösen Krankheiten nicht dadurch verwirrt, dass man von vorn
herein
supponirt,
jede infectiöse Krankheit sei ihrer Entstehung, ihrer Ursache nach
nothwendigerweise durch Verunreinigung (Infection) hervorgebracht.
An die Frage der Infection knüpft sich fast unmittelbar die Frage der Entstehung von
Krankheiten durch besondere kleine Organismen. In consequenter Verfolgung der Richtung,
welche die Forschung der letzten Jahre genommen hat, ist mit einer gewissen Berechtigung die
Ansicht
immer präciser
formulirt worden, dass die Ursache aller infectiösen Krankheiten in
kleinen Organismen zu suchen sei, welche in dem Körper befindlich sind. Wenn dies richtig ist,
und wenn trotz mancher Bedenken auch gegenwärtig noch die Meinung herrscht, dass jedes
lebende Wesen unmittelbar von früheren lebenden Wesen abzuleiten ist, dass jeder selbständige
Organismus wieder von einem Mutterorganismus abstammt, die Generatio aequivoca also
ausgeschlossen wird, so folgt allerdings ganz nothwendig, dass jede infectiöse Krankheit von
aussen her abzuleiten ist.
Ich bin der Ansicht, dass man auch hier vielfach zu weit gebt, und dass man selbst da, wo
bestimmte fremdartige Organismen nachzuweisen sind, in der Beurtheilung der schädlichen
Folgen sehr häufig die organischen Wesen mit den organischen Stoffen verwechselt, welche durch
sie hervorgebracht werden, welche jedoch in gleicher Weise auch ohne sie entstehen und ihre
Bildung finden können. Es liegt ja auf der Hand, dass, wenn uberhaupt chemische Korper durch
solche Organismen producirt werden, damit noch nicht bewiesen ist, dass diese Körper nur auf
diesem Wege erzeugt werden. Sie können ja möglicherweise auch durch andere Prozesse
entstehen, welche in ihrem Endergebniss übereinkommen mit den durch gewisse Organismen
erzengten Producten.
Selbst in den Fällen, wo organische Wesen die eigentlichen Actoren sind, sollte man
unteracheiden zwischen der Wirkung, welche der lebende Organismus als solcher ausübt, und
derjenigen, welche seine Produkte erzeugen. Wir haben in dieser Beziehung ein lehrreiches
Beispiel in den ferrnentativen Prozessen. Niemand bezweifelt, dass fermentative Prozesse durch
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gewisse Pilze erzeugt werden. Wenn daher solche Pilze an irgend einer Stelle des Körpers
gefunden werden, so wird man sehr geneigt sein, zu schliessen, dass an dieser Stelle etwas
Fermentatives vorgegangen ist. Sind gar schädliche Wirkungen wahrgenommen, so wird man
sagen, diese Wirkungen seien bedingt durch die Anwesenheit der Gährungspilze. Aber Niemand
wird behaupten können, dass die Existenz dieser Pilze an sich oder ihre unmittelbare Einwirkung
auf die Theile es ist, weiche die schädlichen Einflüsse macht; vielmehr wissen wil, dass die Pilze
Gährung machen, dass sie dadurch neue chemische Stoffe hervorbringen, und was schliesslich
schädlich wird, das ist nicht der Pilz als Pilz, sondern das sind die schädlichen Stoffe, welche er
erzeugt. Diese schädlichen Stoffe finden sich auch nicht nothwendig im Innern der Pilze; der
Gährungspilz ist nicht giftig im gewöhnlichen Sinne des Wortes, wie andere giftige Pilze. Man
kann grosse Mengen davon ohne Nachtheil verspeisen. Es ist bekannt, dass man im Diabetes
grosse Quantitäten von Hefe als Heilmittel gegeben hat; sie werden ganz gut vertragen, und wir
wissen, dass sie keine Vergiftungszufälle mit sich bringen. Wenn trotzdem gährende Substanzen
als schädliche angesehen werden, wenn sie manchmal sogar den Tod nach sich ziehen, so werden
wir sagen müssen: die schädlichen Einwirkungen sind den Producten der Pilze zuzuschreiben, aber
nicht den Bestandtheilen, welche sie enthalten, nicht der unmittelbaren Einwirkung, welche sie auf
die Gewebe des Körpers ausüben.
Wenn man eine ähnliche Betrachtungsweise anwendet auf die infectiösen Krankheiten, so
wird man nicht verkennen, dass der blosse Nachweis der Existenz dieses oder jenes Organismus,
auch der Nachweis der constanten Anwesenheit desselben an gewissen Punkten noch keineswegs
ausreicht, um zu
beweisen, dass
dieser Organismus
die unmittelbare Ursache der
Krankheitszufälle sei. Wir haben ein nahe liegendes Exempel in den Untersuchungen, welche in
den letzten Jahren über die diphtheritischen Prozesse angestellt sind. Man glaubte in einem Mikrococcus
das schädliche Agens zu finden und sah in dem Uebergange desselben in das Blut das
eigentliche Mittel der Infection des Körpers. Wie sehr war man überrascht, als man diese
Organismen auch unter Umständen im Blute fand, wo sie gar keine Erscheinungen mit sich
brachten.
Ich darf vielleicht an das andere curiose Beispiel erinnern, welches die Cholera
dargeboten hat. Hier fand man im Darminhalte grosse Massen von Pilzen, die man sofort als einen
Beweis für die organische Natur der Cholera-Ursache betrachtete. Ich habe vor einiger Zeit die
Aufmerksamkeit
darauf
gelenkt (Mein Archiv, 1869, Bd. 47. S. 524), dass in acuten
Arsenikvergiftungen, welche symptomatologisch so grosse. Aehnlichkeit mit der Cholera bieten,
und wo es a priori wahrscheinlich war, bei der Untersuchung des Darmes
diagnostische
Verschiedenheiten von der Cholera zu entdecken, in ungeheurer Menge scheinbar dieselben Pilze
vorkommen. Dieser Befund ist durch Herrn Hoffmann (Mein Archiv 1870 Bd. 50. S. 455)
bestätigt worden.
So wenig ich an sich die Richtigkeit des Gedankenganges bestreite, der den neueren
Untersuchungen zu Grunde liegt, dass die eigenthümliche Geschichte der infectiösen Prozesse am
meisten hinführt
auf
die Vermuthung, dass bestimmte organische Wesen die Quelle der
Verunreinigung bilden, so muss ich doch sagen, dass die jetzigen Erfahrungen noch weit davon
entfernt sind, eine sichere Grundlage für eine allgemeine Doctrin der Infection zu bieten, und dass
grosse Vorsicht nöthig ist, wenn es sich um die Anwendung einer solchen Doctrin auf bestimmte
Krankheitsverhältnisse bandelt. Für mich geht die Lehre von den unreinen Stoffen noch nicht
gänzlich in die Lehre von den unreinen Wesen auf.
Was speciell die infectiösen Zufälle nach Verwundungen betrifft, so liegt meiner Meinung
nach hier doch eine andere Quelle der Irrthümer sehr nahe. Der Umstand, dass man eben Wunden,
also offene Atrien vor sich hat, führt leicht dahin, dass man etwas einseitig diejenigen Fälle in den
Vordergrund schiebt, wo ein Gontact tieferer Theile mit der äusseren Luft unzweifelhaft
stattgefunden hat und der Import unreiner Luft ohne Schwierigkeit erfolgen konnte. Ich habe bei
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